„Jede Generation schaut anders auf das Bauhaus“
Als das Bauhaus-Archiv gegründet wurde, wollte man die Ideen der von 1919 bis 1933 existierenden Kunstschule lebendig halten. Seitdem hat sich die Welt rasant verändert, dennoch spielt das Bauhaus weiter eine große Rolle. Es wird beständig zitiert, neu entdeckt, kritisch beäugt. Warum die für die Moderne so bestimmende Einrichtung weiterlebt, welche Rolle die Pädagogik dabei spielt, und wie man eine Sammlung fit fürs digitale Zeitalter macht, erklärt Annemarie Jaeggi, Direktorin des Bauhaus-Archivs.
Annemarie Jaeggi, lassen Sie uns mit der Geschichte des Hauses beginnen. Wie kam es, dass das Bauhaus-Archiv nach Berlin gegangen ist?
Das Bauhaus-Archiv wurde 1960 in Darmstadt als gemeinnütziger Verein gegründet – das ist heute noch unsere Struktur. Es war schlau von dem Gründungsdirektor, dem Kunsthistoriker Hans Maria Wingler, dass er Walter Gropius dafür gewinnen konnte. Der nämlich war seit Ende der 1940er-Jahre in den USA auf der Suche nach einem Ort, an dem man ein Bauhaus-Archiv gründen könnte. Zunächst dachte er an die Harvard University, weil er dort die Architekturabteilung leitete. Dann lernte er Wingler kennen, und die beiden brüteten die Idee aus, das in Darmstadt zu machen. Besonders interessant ist die Namensgebung: warum Archiv und nicht Museum? Die Bauhäusler*innen wollten ihre Werke nicht musealisieren, denn man glaubte, was man dort gemacht hat, gälte für immer. Eigentlich eine unglaubliche Hybris!
Wie kam es zu dieser Vorstellung?
Das erklärt sich dadurch, dass man sich nach dem Ersten Weltkrieg radikal von allem abwandte, was vorher im Kaiserreich galt. Man wollte frei vom Ballast der Geschichte in die Zukunft blicken, um mit Elementarfarben und -formen eine universelle Sprache der Menschheit zu schaffen. Die Bauhäusler*innen waren beseelt von dem Gedanken, dass sie am Nabel der Welt studieren und zur ihrer Veränderung beitragen.
Wie sehr haben die Bauhäusler*innen 1960, als das Bauhaus-Archiv gegründet wurde, ihre Schule noch als Gegenwart wahrgenommen?
Das Bauhaus als Einrichtung war Geschichte, denn es wurde 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geschlossen. An der Hochschule für Gestaltung in Ulm gab es Versuche, das Bauhaus zeitgemäß auferstehen zu lassen. In den USA gibt es heute immer noch das Institute of Design in Chicago, einst gegründet als New Bauhaus. Die Ideen hingegen gehörten in den 1960er-Jahren noch nicht in die Vergangenheit, denn die Bauhäusler*innen haben sich als Menschen des 20. Jahrhunderts empfunden, ganz der Moderne verschrieben. Aber in der Bundesrepublik jener Jahre hatte es die Moderne im Alltag nicht leicht sich durchzusetzen. Immer noch dafür kämpfen zu müssen, hat die Lebensgeister aktiv gehalten.
Kann man abschätzen, wie sich das Bauhaus auf die Kunstausbildung ausgewirkt hat?
Der Ansatz des Bauhauses war generalistisch, es wollte einen neuen Typ Künstler*innen ausbilden: solche, die alles können. Bevor etwas in die industrielle Fertigung gehen konnte, war die Bedingung, es mit den Händen herzustellen. Schauen Sie sich eine Person wie Max Bill an. Ich finde, er ist immer noch das beste Beispiel eines Bauhäuslers, weil er sich alles zugetraut hat – Grafik, Bildhauerei, Malerei, Design, Architektur. Darauf hat es das Bauhaus angelegt: Universalkünstler*innen zu erschaffen, deren Anspruch es ist, die Welt in ihrer Gänze gestalten zu können.
Es gibt das berühmte Diagramm, das die Bauhaus-Ausbildung in konzentrischen Kreisen darstellt, außen zunächst die Vorkurse, dann arbeitet man sich nach innen vor. Woher kommt dieses Denken?
Diese Vorstellung gab es schon vorher. Aber der Erste Weltkrieg war eine ungeheure Zäsur, obwohl schon die Zeit von 1900 bis 1914 sehr aufregend war. Gropius und seine Mitlehrenden haben den Dingen dann eine andere Ausrichtung gegeben – aber sie haben eben nicht alles neu erfunden. Viele von diesen Ideen können heute noch fruchtbar gemacht werden: Wie wollen wir leben? Wie wollen wir wohnen? Hierbei handelt es sich um prinzipielle Fragen nach Veränderung, die aus dem Hier und Jetzt schöpfen und in die Zukunft denken.
Seit einigen Jahren werden neue Aspekte des Bauhauses entdeckt. Warum stecken da so viele schillernde Erzählungen drin?
In den 14 Jahren seiner Existenz hat sich das Bauhaus stets reformiert und neu erfunden. Das hat mit dem Wechsel der Direktoren und der Orte zu tun, aber nicht nur. Das Bauhaus war wie ein Schwamm, ganz in seiner Gegenwart verhaftet und offen für die Fragen seiner Zeit. In den turbulenten Jahren der Weimarer Republik haben sich diese ständig verändert. Fotografie, Film und Rundfunk trugen zu Revolutionen der Wahrnehmung bei. Das hat bei den Künstler*innen etwas ausgelöst.
Gleichzeitig sind die Bewertungen des Bauhauses nicht nur positiv, häufig sind sie sogar widersprüchlich.
Das Bauhaus hat immer schon polarisiert. Auch die Direktoren hatten unterschiedliche Auffassungen. Aus der zeitlichen Distanz schaut jede Generation anders darauf, und wir als Museum haben schon viele neue Perspektiven erlebt. Dass Frauen stärker zu ihrem Recht kommen müssen, war bei uns ein durchlaufendes Thema. Jetzt kommen weitere Fragen: Wie nachhaltig war das Bauhaus? Ist die Einrichtung so universell, dass sie auf alles eine Antwort geben kann?
Tatsächlich hatten die Bauhäusler*innen ein ziemlich affirmatives Verhältnis zur Technologie und Industrie, vielleicht sogar zu einer Rationalisierung der Lebenswelt.
Mit Einschränkungen! Oskar Schlemmer – zum Beispiel – hat die Gefahren dahinter durchaus gesehen. In den Meisterratssitzungen hat er dies immer wieder angesprochen, wie wir aus den Protokollen wissen. Ich würde sagen, dass die affirmative Haltung in den Professionen Architektur und Gestaltung stärker ausgeprägt war. Schließlich haben sie nicht in der Dunkelheit der Werkstatt Stücke ersonnen, die originale Kunstwerke sind. Stattdessen wollten sie in die Gesellschaft hineinwirken und Objekte herstellen, die sich industriell reproduzieren lassen. Daher prägte die Technikeuphorie diese Leute stärker, und weniger die Maler*innen. Aber auch da gilt: Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie merken, dass nur wenige der Objekte in Serie gegangen sind. Die Frage, ob sie ihr Ziel erreicht haben, muss man klar mit Nein beantworten.
Man kann das Bauhaus rückwirkend durch verschiedene Schichten von Kritik betrachten: In der Nachkriegszeit gab es von den marxistisch und psychoanalytisch geprägten Denker*innen aus dem Umfeld der Frankfurter Schule Kritik an der Verdinglichung der Lebenswelt, später vielleicht die Ökologiebewegung, heute gibt es eine ganze Vielfalt von Ansätzen. Wie gehen Sie damit um?
Seit 2018 ist das Bauhaus-Archiv baubedingt geschlossen, 2025 werden wir voraussichtlich wieder öffnen. In diesen sieben Jahren hat sich die Welt verändert, und zwar in einer Geschwindigkeit, die wir uns vorab gar nicht hätten vorstellen können. Wir haben schon in den 1990er- und 2000er-Jahren Ausstellungen zu Frauen am Bauhaus gemacht. Koloniale Fragen haben uns damals noch nicht beschäftigt. Mittlerweile haben wir unsere Sammlung dazu befragt, und das wird auch in die neue Ausstellung einfließen. Wir wollen Schwerpunkte zur Diskussion stellen, verschiedene Sichtweisen anbieten und den Besucher*innen erlauben, ihre eigenen Vorstellungen einfließen zu lassen, die wir im besten Falle aufgreifen. Wir befinden uns in einem riesengroßen Transformationsprozess.
An Ihrem Neubau ist ja interessant, wie viel Fläche multifunktional gedacht ist. Sie bieten der Vermittlung dort sehr viel Platz.
Das wurde lange in deutschen Museen vernachlässigt, veränderte sich aber in den letzten Jahren stark. Wir haben uns Bereiche ausgesucht, die oft immer noch übersehen werden, wie beispielsweise die frühkindliche Bildung – wir arbeiten intensiv mit Kitas. Das geht mit dem Thema Bauhaus auch ganz wunderbar.
Dann haben Sie den Bauhausgedanken in den Neubau implementiert?
Vermittlung muss ganz oben stehen, denn das Bauhaus war eine Schule. Das war ein Anspruch an alle Teilnehmenden des Architekturwettbewerbs für unseren Neubau. Volker Staab hat einen Entwurf vorgelegt, bei dem das Gebäude für die Kulturelle Bildung ein deutliches Zeichen setzt. Es ist ein gläserner Turm, Sie sehen von außen, was drinnen geschieht. Dort finden offene Werkstätten mit drop-in-Angeboten statt. Alle die vorbeikommen, können mitmachen.
Der Bestandsbau ist Ende der 1970er-Jahre eröffnet worden, der Entwurf von Walter Gropius ist aus den 1960ern. Wie verhält sich der Neubau zu dieser Architektursetzung?
Es ist auf jeden Fall eine Herausforderung, auf diesen Bau zu reagieren. Wir haben in der Wettbewerbsausschreibung explizit gefordert, dass wir kein Gebäude im Neo-Bauhaus-Stil wollen, aber alle Teilnehmenden mussten sich Gedanken machen, wie ein Gebäude für die Bauhaus-Sammlung aussehen könnte. Volker Staab greift Ideen und den Geist des Bauhauses auf, was sich aber nicht stilistisch ausdrückt. Es ging ihm dabei um die Anwendung der heute modernsten Bautechnik. Die große Herausforderung war, den Turm, der filigran aufgelöst sein sollte, in gebaute Architektur umzusetzen. Die Statiker haben sich die Zähne daran ausgebissen, bis sie die Lösung gefunden haben, nämlich weitestgehend Stahl und Holz miteinander zu verbinden. Vorfertigung und eine Verkürzung der Bauzeit, das war auch einst für Gropius enorm wichtig. Wenn der Turm gebaut wird, wird man Tag für Tag sehen, wie rasch er emporwächst.
Und wie sehen die Räume für die Ausstellungen aus?
Sobald man Originale zeigt, müssen aus konservatorischen Gründen Richtwerte hinsichtlich Licht, Temperatur und Luftfeuchtigkeit eingehalten werden. Das gilt vor allem für die sehr lichtempfindlichen Arbeiten auf Papier oder Textil. In unserem Bau von Walter Gropius haben wir in der Vergangenheit ständig mit einer Überfülle natürlichen Lichts gekämpft, das durch die Fenster eingedrungen ist. Daher haben wir uns beim Neubau dafür entschieden, optimale Bedingungen zu schaffen, um aus unserer wunderbaren Sammlung so viel wie möglich auch präsentieren zu können.
Dennoch darf man das Digitale nicht vernachlässigen. Wie machen Sie das Archiv fit für diese neue Art der Vermittlung?
Wir haben die Ausstellungen schon immer eher kulturwissenschaftlich angepackt. Das heißt, wir haben das dokumentarische Material mitberücksichtigt, seien es Briefe, Werbeprospekte, Manuskripte. Aber wir wollen natürlich keine reine Vitrinenausstellung. Vieles wird daher über Projektionen und Bildschirme medial vermittelt, das soll und wird aber nicht vom Original ablenken.
Wie fügt sich der Museumsneubau in die unmittelbare Umgebung ein, und wie begegnen Sie dem immer größer werdenden Ruf nach Partizipation und Offenheit?
Wir möchten gerne stärker an diesem Ort wirken, sodass sich Nachbar*innen und Berliner*innen eingeladen fühlen. Die Architektur unseres Hauses konnte bisher durchaus verschlossen wirken. Das neue Gebäude hingegen symbolisiert Offenheit, auch wenn das Museum gar nicht über der Erde liegen wird. Wir wollen dieses Grundstück so aufwerten, dass es ein Ort wird, wo man gerne hingeht, wo auch im Außenbereich etwas angeboten wird. Der Shop und das Café werden eine ganz andere Sichtbarkeit bekommen. Wir werden viel ausprobieren, schauen was geht, und aus den Fehlern werden wir lernen können. Das ist übrigens auch ein Grundsatz des Bauhauses.
Annemarie Jaeggi ist seit 2003 Direktorin des Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung in Berlin. Bis 2021 lehrte sie als Privatdozentin an der Technischen Universität Berlin und war Lehrbeauftragte an der Accademia di Architettura in Mendrisio/Schweiz. Sie ist u.a. Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designgeschichte und Präsidiumsmitglied im Rat für Formgebung / German Design Council. Sie verfasste zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. über Adolf Meyer, Egon Eiermann oder zum Fagus-Werk.