Inklusives Kuratieren
Kirstin Broussard und Kate Brehme von Berlinklusion aus Berlin und Nina Wiedemeyer, Kuratorin am Bauhaus-Archiv, erörtern im Gespräch, warum Behinderung und Barrierefreiheit im Ausstellungsbetrieb keineswegs nur zusätzliche technische Einbauten bedeuten, sondern integrale Bestandteile des Schaffens sowie Kuratierens von Kunst und Wissen sind.
Nina Wiedemeyer: In Bezug auf inklusives Kuratieren kämpfe ich mit zwei Herausforderungen. Zum einen mit der schlechten Infrastruktur. Ich denke unweigerlich direkt daran, dass Barrierefreiheit Mehrarbeit und Zusatzkosten bedeutet. Beispielweise wenn man für eine Veranstaltung drei Übersetzer*innen beteiligt. Zudem plane ich Zugänglichkeit immer noch nicht von Anfang an in all meine Projekte und Ausstellungen mit ein. Dafür schäme ich mich, denn sie ist ein Menschenrecht und mir ist die Stärke von Vielfalt sehr bewusst. Zweitens kümmere ich mich um einen Teil einer riesigen Kunstsammlung. Ich informiere nicht nur über diese Sammlung, sondern möchte natürlich auch Raum für das Kunstschaffen und für Begegnungen bieten.
Die Mitwirkung bei UNBOUND, einem Residenzprogramm für Künstler*innen mit und ohne Behinderungen, ist daher eine optimale Ergänzung und Chance für unsere Arbeit. Mit welchen Schwierigkeiten hattet ihr beim Aufbau des Programms zu kämpfen?
Kirstin Broussard: In Bezug auf Zugänglichkeit, vor allem für Künstler*innen mit Behinderungen, sind die Narrative sogenannter Gatekeeper*innen – Personen, die wichtige Rollen in Entscheidungsprozessen einnehmen – ein riesiges Problem. Diese Narrative reduzieren eine Person darauf, wie sie aussieht oder was die Gatekeeper*innen wiederum von ihr erwarten.
Zugang ist ein Menschenrecht, aber es mangelt gewaltig an Zugang zu Kultur. Mit nur einem Projekt können wir nicht alle Aspekte abdecken, die angegangen werden müssten. Bei UNBOUND haben wir uns entschieden, den Fokus auf die Errichtung eines Raums für Kunstschaffende mit Behinderungen zu richten, in denen sie sich als Künstler*innen präsentieren können. Das Ziel dabei ist, die Barrieren zu Kreativität zu beseitigen und eine Plattform für den Austausch zwischen Künstler*innen mit und ohne Behinderungen zu bieten, die in verschiedenen Disziplinen arbeiten.
Uns war dabei wichtig, ihre Arbeiten in einem regulären Kunstraum auszustellen, um so auf die übliche Unsichtbarkeit und mangelnde Repräsentanz von behinderten Künstler*innen aufmerksam zu machen. So einen Raum zu finden, die Finanzierung für das Residenzprogramm und die Ausstellung zu sichern, war und ist sehr schwierig. Die nötige Infrastruktur ist einfach nie vollständig vorhanden. Selbst wenn man einen barrierefreien Raum findet, ist vielleicht der Aufzug an der nächstgelegenen U-Bahn-Station außer Betrieb – nur ein Beispiel von vielen!
Kate Brehme: Das stimmt. Maßnahmen, die den Zugang zum Arbeiten im Kunstbereich erleichtern, können sehr kostspielig sein – aber im Vergleich wozu? Tatsächlich ist das eine Frage der Prioritäten einer Kunsteinrichtung. Man könnte bei jeder Ausstellung einen sehr teuren wissenschaftlichen Katalog herausgeben oder das Geld dafür nutzen, vielen Menschen zu ermöglichen, zu partizipieren und beispielsweise die Ausstellungen zu sehen.
Und Geld ist nicht das einzige Problem, wenn es darum geht, Zugang zu Kunst und Kultur zu schaffen. Sich Zeit nehmen, fragen, was die Leute tatsächlich brauchen, anstatt es vorauszusetzen, und bereit sein, Dinge anders zu machen, als sie normalerweise gemacht werden: All das ist wichtig, um diejenigen einzubeziehen, die am meisten ausgegrenzt sind. Wir initiierten das UNBOUND-Programm, um Institutionen anzuregen, ihren Beitrag zu leisten. Es liegt an ihnen, ihre Einrichtungen zugänglicher zu machen und Künstler*innen mit Behinderungen den so dringend benötigten Raum zu bieten, damit diese sich entwickeln und Erfolg haben können.
Nina: Du beschreibst zwei interessante notwendige Veränderungen beim Kuratieren: keine Vergleiche anzustellen und sich nicht von Geld ablenken zu lassen. Diese Veränderungen führen zu neuen Konzepten des Kunstschaffens und begünstigen eine gemeinsame Entwicklung von Kunst und Zugang. Darüber hinaus fördern sie Innovation, nämlich im Sinne von Neuverbinden und Verlernen.
Die Arbeit mit Berlinklusion und eurem Netzwerk hat es mir ermöglicht, den Fokus meiner Arbeit auf andere Fragen zu richten. Beispielsweise darauf, wie man das Lernen und Fragenstellen in einer Ausstellung genauso schön, zugänglich und interessant gestalten kann wie die Kunstwerke selbst. Noch besser wäre es, Kunstwerke zu finden, die beides sind: Kunst und ein Raum zum Lernen und Fragenstellen. Kritisches Denken und Neugier sind genau die Eigenschaften, die wir brauchen, um die riesigen Probleme zu lösen, vor denen die Menschheit und die Gesellschaft heute stehen. Ist Behinderung vielleicht gerade eine Kraft, die einen Raum für Umdenken und Neuerung öffnet?
Kate: Auf jeden Fall! Behinderung wurde im Laufe der Geschichte auf viele verschiedene Weisen definiert. Durch die medizinische Definition von Behinderung werden Menschen beispielsweise kategorisiert. Die wohltätige Definition ist wiederum eine Festlegung, die behinderte Menschen als Opfer unterdrückt. Unsere Arbeit beruht hingegen auf einem soziokulturellen Ansatz, der eingesteht, wie sehr es die Gesellschaft ist, die Menschen mit anderem Körper und Geist zu Behinderten macht. In diesem Sinne können wir Behinderung als Stärke begreifen. Behindert zu sein, macht einen Menschen unglaublich widerstandsfähig und von Natur aus kreativ!
Kirstin: Für mich ist Behinderung eine kreative Kraft und – zusammen mit Zugang – ein Motor für das Entstehen transformativer Kunst, Erkenntnis und Einbindung. Mir gefällt das Wort „Gemisch“ als Metapher: Wir alle sind ein Gemisch aus Erzählungen, Geschichte, Kultur, Wahrnehmung, physikalischen Reizen und Gefühlen. Wir sind das Produkt unseres Umfelds, das durch unsere Körper sickert – unsere gelebten Erfahrungen. Unsere Körper bieten uns vielfältige Sichtweisen auf unser Umfeld und jede*r von uns erlebt die Welt anders. Deshalb ist jeder einzelne Mensch eine wertvolle Quelle.
Nina: Unsere Zusammenarbeit begann vor zwei Jahren als Co-Kuratorinnen der Ausstellung „norm und form“ im the temporary bauhaus-archiv. Damals lernte ich, dass Zugänglichkeit individuelle Lösungen erfordert und eine Vielfalt an „Sprachen“ für individuelle Bedürfnisse umfasst. Wie passt ihr UNBOUND in eine Welt von Normen, Formen und Kontrollkästchen zum Ankreuzen ein?
Kirstin: Wir versuchen, die Künstler*innen dort abzuholen, wo sie sind; wir flechten Zugang in die Struktur des Residenzprogramms ein und machen Zugänglichkeit zu einem ständigen Thema. Wir bemühten uns, den Künstler*innen einen offenen Raum zu bieten, um über ihre eigenen und die Bedürfnisse anderer nachzudenken. Entscheidende Aspekte in diesem Prozess waren zum einen, die Ausstellung zusammen mit den Künstler*innen zu planen. Zum anderen die Workshops zur Erarbeitung kreativer Ideen, wie ihre Kunst einem breiten Publikum vermittelt werden kann. Ein weiteres wesentliches Merkmal unseres Ansatzes war, den Prozess so gemeinschaftlich wie möglich zu gestalten.
Kate: Genau. Im Grunde ist es eine Absage an die Welt von Normen, Formen und Kontrollkästchen! Dem Kunstsektor mangelt es an Infrastruktur und Kenntnissen über zugängliche Kunstprojekte wie UNBOUND. Um das Projekt aufzubauen, mussten wir Behelfslösungen finden. Zum Beispiel bezüglich der Finanzierung: Wir finanzierten das Projekt über das Kulturprogramm eines größeren Sportereignisses statt durch die üblichen Quellen für Kunstförderung. Das spricht Bände.
Nina: Was Zugang angeht, denken einige Kurator*innen vielleicht, dass Leitstreifen für Blinde auf dem Boden und tastbare Objekte die Ästhetik der Ausstellung zunichtemachen. Woher kommt dieser Gedanke? Kann Zugänglichkeit schön sein?
Kirstin: In der Berlinischen Galerie (Museum für moderne Kunst in Berlin, Anm. d. Red.) gibt es wunderschöne Tastmedien! Vielleicht ist es einfach fehlende Vorstellungskraft oder das Denken, dass Zugang etwas rein Technisches und nur ein nachträglicher Gedanke bei der Ausstellungsplanung ist. Das irritiert mich. Da würde ich gern fragen, für wen kulturelle Einrichtungen sein sollen? Was ist ihr Zweck?
Ich stelle mir das Publikum und das Kunstwerk gern als einen gegenseitigen Austausch vor, bei dem jede Seite der jeweils anderen etwas gibt, was zu einem tieferen Verständnis eines Kunstwerks führt. In diesem Sinne ist Zugänglichkeit tatsächlich etwas sehr Schönes, wenn es das Hin- und Herfließen von Information, Gedanken, Kenntnissen und Kreativität ermöglicht. Als Künstlerin will ich nichts Anderes als genau das.
Kate: Und für mich als Kuratorin ist das Nachdenken über Zugang während der Ausstellungsplanung eines der anspruchsvollsten und kreativsten Dinge, die man tun kann.
Nina: Wie haben die Kunstschaffenden im UNBOUND-Programm euer Kuratieren beeinflusst und verändert?
Kate: Gute Frage! Ich staune immer wieder über die Fähigkeit von Künstler*innen, eine einzelne Idee in völlig verschiedene Richtungen zu tragen. In der Position zu sein, sie bei diesem Prozess begleiten zu dürfen, ist für mich immer eine informative und transformative Erfahrung. Kristin und ich waren begeistert zu sehen, wie die Gruppe Wege fand, gemeinsam zu arbeiten. Aber ich denke auch, dass jede*r einzelne von ihnen uns an neue Denkweisen heranführte und uns eine andere Art der Kommunikation über die verschiedensten Methoden und Materialen lehrte. Am wichtigsten ist aber, dass sie alle ihre einzigartigen Erfahrungen als individuelle menschliche Wesen in ihre Kunstwerke einbrachten.
UNBOUND ist ein von Berlinklusion initiiertes Residenzprogramm. Die sechs teilnehmenden Künstler*innen präsentieren ihre Arbeiten vom 10. Juni bis 16. Juli 2023 in der Ausstellung „The Space Between“ im CLB Berlin, einem unabhängigen Raum für zeitgenössische Kunst.
Kirstin Broussard ist bildende Künstlerin, Kuratorin (Co-Kuratorin von „The Space Between“), Kunstpädagogin und zusammen mit Kate Brehme, Dirk Sorge und Jovana Komnenic Mitbegründerin von Berlinklusion.
Kate Brehme ist freie Kuratorin (Co-Kuratorin von „The Space Between“), Kunstpädagogin und zusammen mit Kirstin Broussard, Dirk Sorge und Jovana Komnenic Mitbegründerin von Berlinklusion.
Nina Wiedemeyer ist Kuratorin am Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung und für den Projektraum the temporary bauhaus-archiv zuständig. In ihrer Arbeit befasst sie sich mit Fragen von Vielfalt und Inklusion, as unter anderem zur Zusammenarbeit mit Berlinklusion führte.