„Sie waren der Gegenpol zur Wiener Architekturszene“
„Atelier Bauhaus, Wien“, die aktuelle Ausstellung des Wien Museums MUSA in Kooperation mit dem Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, widmet sich dem Werk von Friedl Dicker und Franz Singer. Dabei sind auch rund 100 Werke aus dem Bestand des Bauhaus-Archivs zu sehen. Co-Kurator und Ausstellungsarchitekt Georg Schrom erklärt, wie die Arbeitsaufteilung zwischen Singer/Dicker war, welche Bedeutung das Atelier in Wien hatte und welche Rolle seine Tante Poldi bei der Bewahrung des Archivs spielte.
Sie sind nicht nur Architekt und Co-Kurator der Ausstellung über das „Atelier Bauhaus, Wien”, sondern haben auch familiäre Bezüge zu dem Thema, das Sie seit fast 40 Jahren beschäftigt. Können Sie uns die Hintergründe dazu erklären?
Wo wir jetzt hier sitzen, in der Lerchenfelder Straße 54 im achten Bezirk, war schon seit den 1920er Jahren ein Architekturbüro. Es hat ursprünglich den Architekten Berger und Ziegler gehört, die 1934 nach Palästina ausgewandert sind. Dann wurde es von der Halbschwester meines Vaters, Leopoldine Schrom, von uns Tante Poldi genannt, übernommen. Die Selbständigkeit als Architektin war für eine Frau damals natürlich eine große Sache. Meine Tante Poldi hatte 1925 begonnen, an der Technischen Hochschule in Wien Architektur zu studieren. Mit einer Gruppe anderer junger Frauen war sie eine der ersten, die diesen Sprung gewagt haben. Zu dieser Zeit kamen Friedl Dicker und Franz Singer, die beide am Bauhaus studiert hatten, nach Wien.
Sie begannen zuerst mit kunstgewerblichen Arbeiten, haben dann aber ab 1925 schon erste größere Aufträge bekommen. Das Bauhaus selber hatte aber erst ab 1927 eine eigene Architekturabteilung, d.h. Singer und Dicker hatten keine formale Architekturausbildung. Ab 1926/27 haben sie daher für ihr Atelier Studierende von der Technischen Hochschule geholt, die für sie u.a. die Planzeichnungen angefertigt haben. Darunter waren Bruno Pollak, die ungarische Architektin Anna Szabó und dann ab 1929 auch meine Tante Leopoldine Schrom. Sie hat damals in einem Brief über das Atelier gemeint, die Arbeit bei Singer und Dicker sei eine „mit künstlerischer Begabung hochgehaltene Schlamperei“ und sie selber wolle nur möglichst schnell ihr eigenes Studium beenden. Letztlich hat sie dieses aber nie abgeschlossen und ist die längste Mitarbeiterin in dem Atelier geblieben, bis zu dessen Auflösung im Jahr 1938. Einer ihrer Kollegen beim Studium war übrigens Bernard Rudofsky, der später für seine Publikationen weltberühmt wurde.
Aus welchem Grund sind Friedl Dicker und Franz Singer nach Wien gekommen? Sie hatten sich doch nach ihrer Zeit am Bauhaus zunächst in Berlin niedergelassen.
In Berlin haben Singer und Dicker die Werkstätten Bildender Kunst gegründet. Sie hatten vielfältige Interessen und einen dementsprechend großen Freundeskreis. Der ging in alle Richtungen: Architektur, Musik, Psychoanalyse, Politik. Beide haben bereits während ihres Studiums am Bauhaus von Berthold Viertel (einem österreichischen Schriftsteller, der als Regisseur u.a. in Berlin und später dann in Hollywood Erfolge feierte, Anm.d.Red.) Aufträge für Bühnenbilder bekommen. An diesen Arbeiten sieht man bereits die Formensprache ihrer Architektur. Diese war weniger vom Bauhaus, sondern vor allem von den russischen Konstruktivisten geprägt war, wofür sie harsche Kritiken erhielten.
Das war nicht zufällig, denn Berlin war ja damals ein Melting Pot, wohin auch viele Russen gekommen sind. In Dickers und Singers Umkreis waren zahlreiche Künstler, u.a. auch der Architekt Friedrich Kiesler und Max Bronstein, der später unter dem Namen Mordecai Ardon zu einem der wichtigsten Künstler der israelischen Moderne wurde. Die Werkstätten waren als eine Art Laboratorium gedacht, in dem sich Künstler unterschiedlicher Richtungen austauschen. Nur passierte das alles genau in der Zeit der Hyperinflation. Die Kosten für die Produktionen waren enorm hoch, die Mitarbeiter erwarteten reguläre Gehälter und das ganze Experiment ist schließlich aus finanziellen Gründen gescheitert.
Wie sind Dicker und Singer dann in Wien zu Aufträgen gekommen? Welche Klientel konnten sie ansprechen?
Singer stammte aus einer wohlhabenden Wiener Familie. Wenn man sich die Auftraggeber für die Projekte in der Zeit von 1925 bis 1937 ansieht, dann waren das großteils jüdische Intellektuelle, Industrielle, Ärzte, Analytiker und Journalisten. Viele Aufträge stammten direkt aus dem Umfeld von Singer. Gestalterisch waren Singer und Dicker der Gegenpol zur Wiener Architekturszene. In ihrer Farbigkeit und ihren Ideen waren sie radikaler und auch schillernder als etwa Josef Frank. Ich hatte 1988 die Möglichkeit, mit Milan Dubrović, dem früheren „Presse“-Chefredakteur zu sprechen, der Dicker und Singer noch persönlich gekannt hat. Er meinte damals sinngemäß: Wenn man modern und forschrittlich war, dann hat man Dicker und Singer beauftragt.
Der neue Bauhaus-Chic?
Zu Beginn haben Singer und Dicker sehr üppige, schwere, expressiv-expressionistische Einrichtungen entworfen. Ab den Jahren 1928/29 wurden ihre Entwürfe dann technischer und sie haben begonnen, etwa mit Stahlrohr zu arbeiten. Ein typisches Beispiel dieser Zeit war die Villa Neumann: Da ging es um den Umbau eines Mehrfamilienhauses im tschechischen Reichenberg, das Franz Neumann, einem Cousin von Franz Singer, gehört hat. Singer/Dicker haben zunächst Wände entfernt, um großzügige Raumatmosphären und einen offenen Grundriss zu schaffen, mit Falt- und Klappschiebetüren im Obergeschoß sorgten sie für Flexibilität. Zu den verwendeten Materialien zählte nicht nur Stahlrohr für die Möbel, sondern auch gepresste Platten aus Zuckerrohr und Linoleum – beides Materialien, die heute im Zuge der Ökologisierung des Bauens wieder geschätzt werden.
Typisch für die Einrichtungen von Dicker/Singer sind klapp- und verstaubare Möbel. Ist das nicht ein bisschen ein Widerspruch: Die meisten Auftraggeber waren ja sehr wohlhabend. Wer viel Wohnraum hat, braucht doch keine Möbel, die sich im Handumdrehen in einem Kasten verstauen lassen.
Friedrich Achleitner hat das als „ästhetischen Luxus“ bezeichnet, den sich die Auftraggeber gegönnt haben. Es handelt sich also nicht nur um ein ökonomisches oder funktionelles, sondern auch um ein ästhetisches Prinzip. Wobei man nicht vergessen darf, dass Singer/Dicker auch an sozialen Fragen interessiert waren, wie etwa ein Projekt für den Verein „Jugend in Arbeit“ zeigt. Daran waren viele im Team des Ateliers beteiligt. Meine Tante Poldi ist gemeinsam mit anderen in Elendswohnungen gegangen und hat dort Räume ausgemessen. Dann wurden stapelbare Sessel, Hocker, Tische und Betten entworfen, die von arbeitslosen Jugendlichen hergestellt und Bedürftigen kostenlos zu Verfügung gestellt wurden. Vielbeachtet war auch der von Singer/Dicker eingerichtete Montessori-Kindergarten im Goethehof, im 22. Bezirk, also in einem Arbeiterbezirk.
Wie kann man sich die Arbeitsaufteilung zwischen Singer und Dicker vorstellen?
Mit ihrer Rückkehr nach Wien 1925 hat Friedl Dicker zunächst ein Atelier im 9. Bezirk in der Wasserburggasse beim Franz-Josef-Bahnhof gegründet. Franz Singer schloss sich ihr an. Die ersten vier Jahre des Ateliers fanden dort statt, erst dann erfolgte die Übersiedelung in die Schadekgasse im 6. Bezirk. Doch schon zu Beginn hat sich die Arbeitsaufteilung herauskristallisiert: Er organisiert und kümmert sich um die Auftraggeber und hat die formale Gestaltung.
Und von Dicker fließt das künstlerische Element ein, mit der Farbigkeit, den Stoffen. Die jeweiligen Anteile an der Arbeit sind natürlich schwer abzugrenzen. Aber als ich 1984 von meiner Tante Poldi das Atelier und damit auch einen Teil des Dicker/Singer-Archivs übernommen habe, meinte sie: Solltest Du Dich jemals damit beschäftigen, dann vergiss nicht die Friedl Dicker, denn ihr Einfluss auf die Ateliergemeinschaft war wesentlich größer, als man vermuten würde. Sämtliche Publikationen sind unter dem Namen Franz Singer erfolgt, er hat alle seine Arbeiten fotografieren lassen und die Entwürfe als sein geistiges Eigentum gekennzeichnet. Er hat Dicker nicht erwähnt, das war ein typisches Frauenschicksal der Zeit.
Gibt es Hinweise, dass sich Dicker dagegen gewehrt hat?
Ich glaube, dass es ihr egal war. Deshalb hat sie auch ihre Arbeiten oft nicht signiert. Ende der 1980er Jahre gab es noch die Gelegenheit, mit ehemaligen Freunden, Verwandten und Auftraggebern des Ateliers zu sprechen. Und so bin ich u. a. auf Edith Kramer gestoßen, einer Pionierin der Kunsttherapie, die als Kind Zeichenunterricht bei Friedl Dicker genommen hatte. Als sie einmal eine Zeichnung mit ihrem Namen signiert hat, hat sich Friedl Dicker über sie lustig gemacht und gemeint: „Ah, Du bist eine berühmte Malerin!“ Auf solcherlei Dinge scheint Dicker jedenfalls keinen Wert gelegt zu haben.
Die meisten Arbeiten des Ateliers Singer/Dicker sind verloren oder zerstört. Warum hat dann ausgerechnet das Archiv die Zeiten überstanden?
Das war reines Glück, denn die meisten Nachlässe von Architekten landen irgendwann im Papiercontainer. Singer hat die repräsentativsten Arbeiten für sein Portfolio mit ins Exil genommen, von wo sie später über den Kunsthandel schließlich ins Bauhaus-Archiv nach Darmstadt gekommen sind. Dort wurden sie allerdings lange Zeit nicht wahrgenommen, denn man war ja sehr auf die großen Männer des Bauhauses, wie zum Beispiel Walter Gropius, fixiert. Außerdem konnte man viele der Blätter gar nicht zuordnen, weil das Hintergrundmaterial dazu in Wien geblieben war. Denn als 1938 in Wien das Atelier aufgelöst wurde, hat meine Tante das Archivmaterial kurzerhand bei sich in ihrem eigenen Atelier verstaut. Erst in der jüngsten Vergangenheit ist es Katharina Hövelmann (die mit Georg Schrom und Andreas Nierhaus die Ausstellung im Wien Museum MUSA kuratiert hat, Anm.d.Red.) gelungen, die beiden Teile als Ganzes gründlich zur erforschen und in Beziehung zu setzen.
Zum Abschluss noch kurz zur Rezeptionsgeschichte. Friedl Dicker wurde 1944 in Auschwitz ermordet, Singer überlebte im Londoner Exil. Nach dem Krieg hatte in Wien kaum jemand an der Arbeit des Ateliers Interesse, und die Bauhaus-Rezeption konzentrierte sich auf die Big Names, da spielte ein Wiener Ableger auch keine Rolle. Kein Wunder, dass das Atelier von Dicker und Singer lange Zeit in Vergessenheit geraten ist.
Mit dem 100-jährigen Jubiläum des Bauhauses ist vieles aus dem Umfeld ins Zentrum gerückt. Wir haben zwar schon bei unserer ersten Ausstellung 1988 im Heiligenkreuzer Hof sehr viel Lob dafür bekommen, dass wir das Werk ausgegraben haben. Dann ist es jedoch wieder in Vergessenheit geraten. Wenige in Wien wissen, dass Elena Makarova bereits 1992 eine Dicker-Ausstellung im Yad Vashem-Museum gemacht. 1994 war im Jüdischen Museum Frankfurt eine Ausstellung und dann hatten wir ein sehr großes und äußerst erfolgreiches Projekt: Der Auftraggeber für die Friedl Dicker-Ausstellung war das Museum of Tolerance in Los Angeles, und da haben wir zunächst eröffnet im Palais Harrach, einer Dependance des Kunsthistorischen Museums. Die Ausstellung ist dann ins Joanneum nach Graz gegangen, ins Egon-Schiele-Zentrum in der Tschechischen Republik, ins Jüdische Museum Paris, dann weiter nach Stockholm, New York, Los Angeles, Atlanta und dann noch in vier Museen in Japan. Es ist also viel passiert, auch wenn man das hierzulande nicht immer wahrgenommen hat.
Nach fast 40 Jahren Beschäftigung mit dem Thema. Was bedeutet für Sie die nunmehrige Ausstellung im Wien Museum MUSA?
Elena Makarova und ich haben lange auf so ein Projekt hingearbeitet. 1988 haben wir mit bescheidenen Mitteln einen Anfang gemacht. Dass man nun das Werk von Dicker und Singer noch einmal umfassender mit den neuesten Forschungsergebnissen präsentiert, bedeutet viel. Wir waren am Samstag mit Sir Norman Foster in der Ausstellung, und der war ganz begeistert. Man kann jetzt kunsthistorisch den Wert der Arbeit erkennen. Natürlich kann man auch Kritik daran äußern, weil es eben so künstlerisch war, obwohl das Ganze unter dem Titel der Funktionalität passierte. Mir ist auch sehr wichtig, dass das Werk von Friedl Dicker nicht nur auf die Zeit ab 1942 reduziert wird, als sie im Ghetto Theresienstadt interniert war und Kindern Mal- und Zeichenunterricht erteilt hat. Denn abgesehen von diesem furchtbaren Ende gab es in Dickers Leben sehr viel Positives, die hatten sehr viel Spaß und Kraft. Wenn man sich vorstellt, dass sie nach dem Ersten Weltkrieg, in einer Zeit des Hungers und des Elends und der Spanischen Grippe, ans Bauhaus gingen, um dort abstrakte Kunst zu machen! Was für ein Optimismus trotz der Umstände! Daran könnte man sich heute ein Beispiel nehmen.