Zwiesprache mit Otti Berger: Ein Interview mit Textildesignerin Katja Stelz
Katja Stelz ist Weberin und Textildesignerin und hat in dieser Doppelkompetenz das Werk von Otti Berger analysiert, die selbst eine herausragende Handwerkerin und eine moderne Designerin gewesen ist. Nina Wiedemeyer, Kuratorin am Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, spricht mit ihr über die Nachwebungen von zwei Stoffen von Otti Berger, die im Rahmen der Publikation und Ausstellung der Künstlerin Judith Raum „Otti Berger. Stoffe für die Architektur der Moderne“ entstanden sind.
Was ist eine Nachwebung?
Nachwebungen nach Stoffen von Otti Berger herzustellen, war eine Zwiesprache mit Otti Berger. Ich habe sogar Tagebuch während des Prozesses geführt, weil mir dabei so viel durch den Kopf ging. Mein Ziel war es, dem Original so nah wie möglich zukommen: technisch, in der Farbgebung, beim Material, in der Anmutung und in der Funktion.
Die Stoffe sind 100 Jahre alt und wurden mit Materialien hergestellt, die es heute nicht mehr gibt. Daher sind die Nachwebungen auch keine hundertprozentigen Kopien, sondern künstlerische Annäherungen an das Original. Erst im Machen durchlebe ich den ganzen Prozess. Ich muss das Gewebe verstehen, um es neu zu konstruieren. Erstmal ist das Material mir sehr neu und fremd gewesen. Ich musste ein Gefühl zu den Materialien gewinnen und Vertrauen aufbauen: Wie muss ich das Material behandeln, dass ich das Gewebe mit den gewünschten Funktionen und dem originalen Charakter hinkriege?
Im Prozess gab es neben der technischen auch eine emotionale Ebene. Eine Annäherung an die Gestalterin Otti Berger. Ich habe mich gefragt: Was hat sie beim Entwerfen gewusst über die Ausstrahlung des fertigen Stoffs? War sie überrascht, als der Stoff fertig war? Wieviel Vorbereitung und Experimentieren lag dem zu Grunde?
Gab es Unterschiede zwischen den beiden Stoffen?
Beide Stoffe sind aus besonderen Materialien und die Verwendungen der beiden Wandspannstoffe waren sehr unterschiedlich. Der Wandbespannstoff aus Ramie ist sehr raffiniert – da hat Otti Berger viel im Vorfeld experimentiert. Es sind etliche kleine Musterstücke in Sammlungen erhalten, die wir uns bei den Vorbereitungen angesehen haben. Den Ramie-Stoff hat Berger für Bucheinbände ihrer Musterbücher verwendet und für eine Lichtinstallation vor einem Leuchtkasten aufgespannt.
Ich vermute, Berger hat die Funktionen des Materials beim Experimentieren kennengelernt und erforscht. Als der Stoff fertig war, hat Berger ihn dann für verschiedene Anwendungen ausprobiert. Beim Zellulosestoff dagegen waren ein spektakulärer Auftritt, Raumakustik und Dämmung in Innenräumen das Ziel. Da hat Berger im Vorfeld der Produktion vor allem verschiedene Bindungsvarianten mit dem Garn ausprobiert. Die sind noch in Musterstücken in Zürich erhalten. Berger hat sich für eine Bindungsart entschieden, weil sie besonders geeignet war, die gewünschte Funktion zu erfüllen.
Wie war dein Arbeitsprozess?
Weben ist Denken mit den Händen. Um einen Stoff nachweben zu können, muss ich nah an den Stoff dran. Etwas, was in Museen normalerweise nicht geht. Ich muss das Gewebe unter der Lupe und in die Hand nehmen. Ich muss die Fäden vorsichtig auseinanderschieben, um die Bindungsart zu vergleichen und zu verstehen. Die größte Herausforderung war es, das Material zu finden. Weil es Materialien sind, die heute für Textilgestaltung und Weberei keine Rolle mehr spielen.
Lange und weltweit habe ich gesucht und bin in der Schweiz und in Italien fündig geworden: Die Garne sind dem Original aber nur sehr ähnlich. Ich hatte für die Nachwebung des Zellulose-Stoffs ein kleines Stück als Vorlage. Wir konnten nicht ahnen, wie der Stoff ursprünglich wirken sollte.
Ich war sehr lange im Arbeitsprozess dicht dran an einem 6 x 6 cm großen Stück Stoff, der eigentlich für Wände in großen Innenräumen – wie in einem Kino – gedacht war. Auch während des Webens konnte ich nur kleine Ausschnitte wahrnehmen. Nach dem Herausschneiden aus dem Webstuhl, als der Stoff in der Werkstatt aufgehängt war und ich ihn mit Abstand betrachtet habe, war der Stoff ein anderer.
Ich war ich sehr überrascht! Der Stoff war nicht mehr das Gewebe aus einem schwarzen Kettfaden und einem weißen Schussfaden, sondern das Schwarz-Weiß verschwamm in großer Fläche zu einem überwältigenden folienartigen, silbrigen Glanz. So war es konzipiert! In der Fläche hat der Stoff einen großen Auftritt.
Wie kann ein Museum dein Wissen nachvollziehbar machen?
Das Weben ist eine sehr komplexe Technik. Damit auch Menschen das nachvollziehen können, die nicht selbst weben können, haben ich den Forschungs- und Arbeitsprozess dokumentiert in einem Making-Of, der jetzt Teil der Sammlung Bauhaus-Archiv ist. Auch die Möglichkeit, Musterstücke anfassen zu können, ist für das Verstehen der Stoffe wichtig.
Beide Stoffe haben allein über das Material eine hohe sinnliche Qualität. Außerdem hilft das Inszenieren der Stoffe in der ihnen zugedachten Art und Weise: Den Ramie-Stoff zum Beispiel – wie Judith Raum das in ihrer Installation für das temporary bauhaus-archiv macht – kann durchleuchtet und aufgespannt gezeigt werden. So etwas ist im Ausstellungsraum mit den Nachwebungen möglich.
Was haben die Nachwebungen für Erkenntnisse zum Werk von Otti Berger gebracht?
Am allermeisten mit Freude erfüllt mich, dass Otti Berger als Weberin aus der Vergessenheit geholt wird und mit ihrem großartigen Werk wertgeschätzt wird. Sie gehört in die Reihe der anderen großen Bauhaus-Weberinnen Anni Albers und Gunta Stölzl. Albers ist die Künstlerin, Stölzl die hervorragende Handwerkerin, Berger ist die moderne Textildesignerin. Das sind drei unterschiedliche Bereiche, die für die Textilkunst wichtig sind. Da hat Otti Berger bisher gefehlt mit ihrer ganz eigenen Handschrift und Absicht. Sie hat mit der Industrie zusammengearbeitet.
Das Nachweben war eine Annäherung an Otti Berger als Gestalterin und als hervorragende Handwerkerin. Im Nachweben verstehe ich, wie sie als Textilgestalterin gedacht hat. Ich habe größte Hochachtung vor der gestalterischen Sicherheit, Virtuosität und handwerklichen Könnerschaft. Berger hat architektonische Funktionen von Stoffen souverän umgesetzt. Die Analysen zu den Stoffen haben gezeigt, wie Berger Textil als festen Bestandteil von Architektur entworfen hat: für Licht, Wärmedämmung und Akustik. Selbst Bergers Polsterstoffe haben eine skulpturale Funktion und sind für den Raum gedacht.
Heute sind Textilien mit solchen Anforderungen und Qualitäten weitgehend aus der Architektur verschwunden. Stoffe sind heute vor allem Deko: Kissen, Vorhänge, Teppiche. Es ist so wunderbar zu sehen, was sich mit dem Werk von Otti Berger auch für uns heute eröffnen kann. Wir entdecken Eigenschaften des Textilen wieder für heutige und zukünftige Räume.