Neues Sehen mit Lotte Beese
Die Sammlung des Bauhaus-Archivs dokumentiert mit rund 1.000.000 Objekten die Geschichte der Kunstschule. Jedes Jahr entdeckt das Team neue Werke, die vom Bauhaus erzählen und in die Sammlung aufgenommen werden. In loser Folge stellen die Mitarbeiter*innen ausgewählte Neuzugänge vor. Dieses Mal: ein Vintage-Print von Lotte Stam-Beese.
Im Sommer 2020 konnte das Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung Berlin einen der seltenen Vintage-Prints der Bauhaus-Künstlerin Lotte Stam-Beese erwerben. Stam-Beese arbeitete zu Beginn der 1920er-Jahre als Bürokraft in den Deutschen Werkstätten in Dresden-Hellerau. Dort erlernte sie in der hauseigenen Werkstatt die Grundlagen des Webens. 1926 kam sie an das Dessauer Bauhaus und studierte unter Gunta Stölzl Weberei. Ab 1928 wechselte sie in die Ausbauabteilung und zur Baulehre; hier wurde sie von Hannes Meyer, Mart Stam und Hans Wittwer unterrichtet. Stam-Beese war damit die erste Frau – und eine der wenigen Frauen überhaupt – die am Bauhaus Architektur studierten.
Im März 1929 verließ Stam-Beese das Bauhaus ohne Abschluss. Dennoch gelang es ihr, weiterhin im Baubereich zu arbeiten, zunächst im Berliner Architekturbüro von Hugo Häring, dann im privaten Baubüro von Hannes Meyer, wo sie an der Konzeption der Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau beteiligt war. Zu Beginn der 1930er-Jahre wirkte die überzeugte Kommunistin an mehreren sozialistischen Siedlungsprojekten in der russischen Hauptstadt Moskau, der tschechischen Stadt Brno sowie in der ukrainischen Stadt Charkiw mit. 1934 gründete sie zusammen mit Mart Stam (den sie später heiratete) in Amsterdam das Architekturbüro „Stam en Beese Architecten“.
1944 gelang es Lotte Stam-Beese, ihr Diplom an der Architekturschule in Amsterdam nachzuholen und erfolgreich abzuschließen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war sie am Wiederaufbau der Stadt Rotterdam beteiligt und arbeitete dort ab 1946 als erste Frau im Amt für Stadtplanung – eine erstaunliche Karriere für eine Frau zu jener Zeit. Die ehemalige Bauhäuslerin war jedoch nicht nur erfolgreiche Architektin, sondern auch eine überaus talentierte Fotografin. In der Sammlung des Bauhaus-Archivs befinden sich bereits einige Fotografien von Stam-Beese, wie beispielsweise Porträts ihrer Bauhaus-Kommilitoninnen aus der Webereiwerkstatt und von Mart Stam. Viele dieser künstlerisch eindrucksvollen Fotografien sind direkt am Bauhaus entstanden, darunter auch das nun erworbene Porträt von Hannes Meyer.
Der Schweizer Architekt Hannes Meyer war von 1928 bis 1930 Direktor des Dessauer Bauhauses. Bei dem Porträt handelt es sich um eine von oben fotografierte Nahaufnahme seines Gesichts, das vor dem schwarzen Hintergrund fast körperlos erscheint. Sanft lächelnd blickt Meyer rechts aus dem Bild heraus, die Kopfhaltung in einer Diagonalen, die für die fotografische Stilrichtung des Neuen Sehens charakteristisch ist.
Das Porträt strahlt eine Intimität aus, die man von dem Direktor einer Schulinstitution und einem Lehrer der Porträtierenden so nicht erwarten würde. Tatsächlich führte Stam-Beese zu jener Zeit eine romantische Beziehung mit dem bereits verheirateten Meyer, mit dem sie auch ein Kind bekam. Diese Beziehung war der Grund, warum sie das Bauhaus verließ und später kurzzeitig in Moskau lebte, wohin sie Meyer nach dessen Entlassung vom Bauhaus 1930 gefolgt war. Die persönliche Verbindung zu Meyer wird auch durch die Widmung der Fotografin auf dem Unterlagekarton deutlich: „Für Claudia Meyer“, eine der Töchter von Hannes Meyer. Das Werk selbst stammt aus dem Besitz von Livia Klee-Meyer, Meyers Tochter aus erster Ehe.
Das Leben und Wirken Meyers wurde in der westlichen Rezeption des Bauhauses jahrzehntelang vernachlässigt. So ist er auch im Bauhaus-Archiv im Vergleich zu Walter Gropius, dessen Nachlass die Institution besitzt, sehr viel weniger mit Dokumenten und Werken vertreten. Mit dem Porträt von Lotte Stam-Beese wird die Sammlung nun um ein privates Lebensdokument des zweiten Bauhaus-Direktors bereichert.