Utopie von Kinderhand
Die Sammlung des Bauhaus-Archiv dokumentiert mit rund 1.000.000 Objekten die Geschichte der Kunstschule. Jedes Jahr entdeckt das Team neue Werke, die vom Bauhaus erzählen und in die Sammlung aufgenommen werden. In loser Folge stellen die Mitarbeiter*innen ausgewählte Neuzugänge vor. Dieses Mal: Der Ingenius-Baukasten von den beiden Architekten Wilhelm Kreis und Carl August Juengst.
Auf der Schachtel mit roter Einfassung steht der Titel Ingenius-Mininmal. Das Covermotiv verspricht Großes: Zu sehen ist eine tiefe Schlucht zwischen zahllosen Wolkenkratzern. Die Gebäude sind schmucklos, lediglich rechtwinklige Öffnungen strukturieren die Fassaden. Sie reichen über den Bildrand hinaus und imponieren durch ihre Höhe. Perspektivisch befinden wir uns im 22. Stockwerk und schauen über einige Häuser hinweg in den hellblauen Himmel. Auf einer rot-orangen Brücke prangt in großen Lettern der Schriftzug „The New City“.
Hochhäuser waren in den 1920er-Jahren in Deutschland noch relativ neu. Sie entsprachen der Vorstellung einer modernen Stadt und sollten das Problem von knappem Wohnraum beseitigen. Auch am Bauhaus setzten sich Lehrende wie Studierende mit dem Thema auseinander. Der Bauhaus-Meister Georg Muche entwarf einen Wohnturm mit großzügigen Terrassen, der Stadtplaner Ludwig Hilberseimer widmete sich ganzen Siedlungsanlagen mit gemischter Bebauung von hohen und niedrigen Baukörpern und die Bauhaus-Direktoren Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius beteiligten sich an Hochhaus-Wettbewerben.
Auch der Baukasten als Spielzeug für Kinder ist keine neue Erfindung. Mitte des 19. Jahrhunderts entstand in Europa eine pädagogische Bewegung, die für neue Ideale in Schule, Bildung und Erziehung eintrat. Ziel war es, die Kreativität der Kinder zu fördern. So können mit den 53 Spielsteinen Türme aufgestapelt werden. Eine Miniaturwelt entsteht. Ein beigelegtes Heft bebildert das spektakuläre Setting.
Der Ingenius-Baukasten wurde um 1924 von den Architekten Wilhelm Kreis (1873–1955) und Carl August Juengst (Lebensdaten unbekannt) entworfen. Beide waren nie am Bauhaus. Kreis bekam schon um 1900 mit dem Bau von über 40 Denkmälern in Deutschland viel Anerkennung. Anfang der 1920er-Jahre entwarf er mit dem Wilhelm-Marx-Haus eines der ersten Hochhäuser in Düsseldorf. Juengst war vermutlich ein Mitarbeiter in dem Architekturbüro von Kreis, allerdings lassen sich kaum Informationen über den Architekten finden.
In der Broschüre, die dem Baukasten beigelegt ist, wird auf Filme der 1920er-Jahre hingewiesen. So eigne sich das Set an Bausteinen als „Ausführungs-Verfahren und vollkommener Ersatz der größten Filmbauten“. Tatsächlich zeigen einige Filme, wie zum Beispiel der Film Metropolis (1927) von Fritz Lang megalomanische Stadtlandschaften und monumentale Wolkenkratzer. Das Geschehen spielt in übereinander gebauten, hintereinander geschichteten Hochhaus-Gebirgen, verwinkelt und ohne offene Plätze. Vermutlich wurde der Ingenius-Baukasten nie für den Bau von Filmkulissen genutzt. Der Satz sollte die kindliche Kreativität anregen, sich eine eigene Fantasiestadt auszudenken.
Die Abbildungen in der Broschüre zeigen spielende Kinder inmitten einer Hochhaus-Landschaft. Die Bilder erinnern an den berühmten Film King Kong und die Weiße Frau von 1933. Dort zerstört ein riesengroßer Gorilla eine Stadt. Auch die Kinder wirken inmitten der hölzernen Türme, fantastischen Bauwerke und komplexen Brücken wie Riesen. Jede ihrer Bewegungen bedroht die Stabilität der hohen Gebäude. Doch sie sind auch Erbauer*innen dieser Kulisse und schichten emsig Etage auf Etage, so dass die Bautürme weit über ihre Köpfe ragen. Für eine Stadt dieser Ausmaße bedarf es mehrerer Tausend Spielsteine. Der Inhalt des Ingenius-Baukastens genügt jedoch kaum für eine einzige Hochhausfassade. So bebildern die Fotografien nicht das tatsächliche Spiel, sondern den Traum des Höher-Hinaus-Wollens. Die Broschur wird so zur Anleitung einer Utopie.